Wie zwei Frauen im Deutschland der Nachkriegszeit eine mittelalterliche Handschrift stahlen
Von Jennifer Bain / Das Gespräch
Vor 76 Jahren, im Februar 1945, während des Zweiten Weltkriegs, bombardierten alliierte Streitkräfte die prächtige Barockstadt Dresden, Deutschland, zerstörten das meiste davon und töteten Tausende von Zivilisten.
Im Zentrum von Dresden jedoch überlebte ein Bankgewölbe mit zwei wertvollen mittelalterlichen Handschriften das Inferno unbeschadet. Die Manuskripte waren die Werke der Komponistin, Schriftstellerin und Visionärin Hildegard von Bingen (1098-1179), die ein Kloster am Rhein bei Wiesbaden rund 500 Kilometer westlich von Dresden gegründet hatte.
Abtei St. Hildegard bei Wiesbaden, Deutschland. (Moguntiner / CC BY-SA 3.0)
Hildegard, deren Schriften ihre religiösen Visionen dokumentierten, einschließlich einer Theologie des weiblichen und eines ökologischen Bewusstseins, und die Heilkräuter zu medizinischen Zwecken verwendete, wurde vor Ort für Jahrhunderte als Heilige verehrt. Die katholische Kirche erkannte sie erst vor Kurzem als eine solche an und ernannte sie auch zur Kirchenlehrerin.
Nach den Dresdner Bombenanschlägen beschlagnahmte und inspizierte die Sowjetarmee das überlebende Gewölbe. Der erste Bankbeamte, der danach in das Gewölbe eindrang, fand es geplündert vor - lediglich ein Manuskript blieb übrig. Die Bank konnte nie bestätigen, ob das Gewölbe offiziell geleert oder geplündert wurde.
Das fehlende Manuskript war seitdem im Westen nicht mehr zu sehen. Das andere kehrte durch die außergewöhnlichen Bemühungen zweier Frauen in seine ursprüngliche Heimat Wiesbaden auf der anderen Seite Deutschlands zurück. Dies ist die Geschichte der Verschwörung dieser Frauen, das Manuskript nach Hause zurückzubringen.
Die biblischen Versuche, die mittelalterlichen Handschriften zu schützen
1942 sorgte sich Gustav Struck, der Direktor der Landesbibliothek in Wiesbaden, um lokale Luftangriffe. In Anlehnung an viele europäische Institutionen entschied er, dass die Handschriften seiner Bibliothek zur sicheren Aufbewahrung an einen anderen Ort verschickt werden mussten.
Zwei der wertvollsten Besitztümer der Bibliothek waren Handschriften von Hildegards Werken. Eine war die illuminierte Prachthandschrift Scivias, eine Sammlung von 26 religiösen Visionen. Das andere Manuskript, bekannt als der Riesencodex, ist die vollständigste Zusammenstellung ihrer Werke, einschließlich der visionären Schriften, Briefe und die größte bekannte Sammlung ihrer Musik.
Hildegard erhält Visionen, eine Reproduktion eines Bildes aus der mittelalterlichen Handschrift ‘Scivias’. (Eisenacher~commonswiki / Public Domain)
Warum Struck sich entschied, die Handschriften in einem Bankgewölbe in Dresden zu lagern, ist immer noch ein Rätsel, aber ihre Zug- und Straßenbahnfahrt mitten im Krieg dorthin ist gründlich dokumentiert. Die Handschriften wurden bis zum Anschlag auf Dresden drei Jahre im Bankgewölbe gelagert.
Die mittelalterlichen Handschriften nach dem Krieg
Unmittelbar nach dem Krieg entließen die Amerikaner Struck in ihren Entnazifizierungsbemühungen. Der Bibliothekar Franz Götting übernahm seinen Job. Götting erkundigte sich nach den Manuskripten, sobald der Postdienst nach Dresden wieder aufgenommen wurde, und erfuhr, dass das Scivias-Manuskript fehlte, entweder beschlagnahmt oder geplündert, aber dass die Bank noch den Riesencodex hatte.
Götting bat wiederholt darum, den Riesencodex von Dresden nach Wiesbaden zurückbringen zu dürfen. Die Schwierigkeit war, dass Dresden in der neu gebildeten sowjetischen Zone war, während Wiesbaden in der amerikanischen Zone war. (Die Alliierten hatten Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt und ebenso die Hauptstadt Deutschlands, Berlin.) Die Sowjets hatten ein Dekret erlassen, das besagte, dass alles Eigentum, das auf deutschem Territorium gefunden und von der Roten Armee besetzt wurde, ihnen gehörte.
Der Plan zum Abrufen des mittelalterlichen Manuskripts
Eine Gelehrte und Mittelalter-Expertin in Berlin hatte jedoch einen Plan, um das Manuskript zurückzuholen. Margarethe Kühn, eine gläubige Katholikin, die Hildegard sehr liebte, hatte eine Position als Forscherin und Redakteurin beim Monumenta Germaniae Historica Projekt inne. Nach dem Krieg lebte sie im amerikanischen Sektor Berlins und arbeitete im sowjetischen Sektor.
Kühn hatte sich im März 1947 mehrere Tage in der Abtei St. Hildegard aufgehalten und selbst als Nonne den Anschluss an die Abtei erforscht. Sie muss während ihrer Zeit dort gehört haben, dass der Riesencodex in Dresden einbehalten wurde, ohne dass eine Rückkehr versprochen wurde. Sie ersann einen Plan, um zu helfen.
Fotografie des Riesencodex aus dem 12. Jahrhundert. (Magnus Manske / CC BY-SA 3.0)
Kühn bat Götting um Erlaubnis, das Manuskript für Studienzwecke auszuleihen. Götting fragte im Auftrag Kühns das sowjetisch geführte Ministerium für Bildung, Universität und Wissenschaft in Dresden. Zur großen Überraschung des Bibliothekars stimmten die Ministerialbeamten zu, das Manuskript für Kühn an die Deutsche Akademie zu schicken, ein nationales Forschungsinstitut, das 1946 in Berlin von der sowjetischen Verwaltung gegründet wurde.
Kühn war überzeugt, dass die Dresdner Bürokraten den Riesencodex nicht anerkennen würden. Bei der Rückgabe der Handschrift entschied sie, mithilfe des Wiesbadener Bibliothekars Götting eine Ersatzhandschrift nach Dresden und das Original nach Wiesbaden zu schicken.
Raub der mittelalterlichen Handschrift
Kühn ersann den Plan mithilfe einer Amerikanerin, Caroline Walsh. Wie genau sich Kühn und Walsh trafen, ist nicht bekannt, aber Carolines Ehemann Robert Walsh war in der amerikanischen Luftwaffe und war von 1947-48 als Geheimdienstdirektor für das europäische Kommando in Berlin stationiert.
1984 erklärte Robert in einem Interview, dass sie, als er und Caroline in Berlin waren, ‘sehr viel mit den Deutschen und auch mit den religiösen Einrichtungen gearbeitet’ haben. Da die Walshes auch katholisch waren, ist es wahrscheinlich, dass sie und Kühn sich durch katholische Kreise in der Stadt trafen. Carolines Position als Ehefrau eines hochrangigen Militäroffiziers könnte es ihr erleichtert haben, durch militärische Besatzungszonen und -sektoren zu reisen.
Wir wissen jedenfalls, dass Caroline mit Zug und Auto angereist ist und das Manuskript am 11. März 1948 persönlich an die Abtei St. Hildegard in Eibingen übergeben hat. Die Nonnen benachrichtigten Götting in der Wiesbadener Bibliothek und gaben das Manuskript zurück.
Der mittelalterliche Manuskript-Tausch wurde erkannt
Götting hatte unterdessen kein passend großes Manuskript gefunden, um für den großen Riesencodex einzustehen, um die Sowjets zu betrügen. Stattdessen wählte er ein ähnlich großes gedrucktes Buch aus dem 15. Jahrhundert aus und schickte dieses an Kühn in Berlin.
Es dauerte einige Zeit, bis Kühn es an das Ministerium für Bildung, Universität und Wissenschaft in Dresden übergab, und zwei weitere Monate, bis jemand dort im Januar 1950 das Paket öffnete. Zu dieser Zeit war Hildegards Manuskript sicher in Wiesbaden. Doch die Beamten entdeckten die Täuschung und Kühn steckte in Schwierigkeiten.
Riesencodex folio 0317, mit der ersten Seite von Vita Sanctae Hildegardis. (Tetraktys / Public Domain)
Ein Beamter in Dresden schrieb an die Deutsche Akademie in Berlin und verlangte zu erfahren, warum man ihnen ein gedrucktes Buch und nicht das Riesencodex-Manuskript geschickt hatte. Kühns Chef, Fritz Rörig, der den Brief erhielt, war wütend auf sie.
Rörig und Götting glätteten die Wogen mit Dresden, indem sie im Austausch ein weiteres Manuskript anboten. Doch Rörig sagte Kühn, dass die ostdeutsche Polizei nach ihr fragte, was implizierte, dass er sie angezeigt hatte.
Ein mittelalterliches Manuskript fehlt noch
Obwohl sie danach einige Zeit in großer Sorge blieb, verlor Kühn trotz Rörigs Drohungen weder ihren Job bei der Monumenta noch wurde sie verhaftet. Für den Rest ihres Lebens hatte sie eine seltene grenzübergreifende Existenz, sie lebte von sowjetischen Löhnen im amerikanischen Sektor, während sie bis zu ihrem Tod 1986, im Alter von 92 Jahren, am selben Arbeitsplatz blieb.
Als eine von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die regelmäßig den Riesencodex berät, der jetzt online verfügbar ist, bin ich Caroline Walsh und insbesondere Kühn sehr dankbar, die ihren Lebensunterhalt um eines Buches willen aufs Spiel gesetzt haben. Ich bin jedoch nicht allein in der Hoffnung, dass jemand zu meinen Lebzeiten irgendwo das gestohlene Scivias-Manuskript findet und auch zurückgibt.
Illumination der Scivias, der fehlenden mittelalterlichen Handschrift, zeigt engelhafte Hierarchien. (Tetraktys / Public Domain)
Oberes Bild: Zwei Handschriften der Visionärin, Schriftstellerin und Komponistin Hildegard von Bingen (1098-1179) überlebten die Dresdner Bombenanschläge, nachdem ein Bibliothekar sie in einem Bankgewölbe versteckt hatte. Quelle: Deutsche Fotothek / CC BY-SA 4.0.
Der Artikel ‘Wie zwei Frauen im Deutschland der Nachkriegszeit eine mittelalterliche Handschrift stahlen’ wurde ursprünglich auf The Conversation und unter einer Creative Commons Lizenz veröffentlicht.
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